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Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Demokratie. Aber keine Macht muss sich gegen dieses Gespenst mit anderen verbünden. Niemand empfindet es als Schmähung, als Demokrat bezeichnet zu werden. Dieses Gespenst zählt tatsächlich eher zu den Totengeistern toter Geister und je weniger man es beachtet, desto früher wird es von allein verschwinden. Auch an der Greifswalder Universität.

Während das vielfach angeprangerte Demokratiedefizit in der Europäischen Union von Menschen mit geringerer Bildung nur als diffuse Bedrohung politischer (Be-)Greifbarkeit erfahren und von Menschen mit höherer Bildung hier und dort ansatzweise diskutiert wird, fand das Phänomen mangelnder demokratischer Mitbestimmung bisher auch einen Ursprung in der Greifswalder Mensa am Wall, dem Ort der Vollversammlung der Studierendenschaft.
Denn wenn nur rund 170 Mitglieder der fast 12.000 Köpfe umfassenden Greifswalder Studierendenschaft den meist höchstens zehnminütigen Radweg bewältigen wollen, um dieses eine Mal im Semester einfach und wirkungsvoll ihren Willen und ihre Meinung in deutlichen Worten zu formulieren, anstatt jene nur in ein paar Kreuzchen auf dem Wahlzettel auszudrücken, muss man sich über Mängel auf höheren politischen Ebenen nicht wundern. Aber vielleicht haben sie auch nichts mitzuteilen, die anderen 11.800. Wenigstens Rektoren, Dekanen und Ministern hilft dieser Schluss bei der Entscheidungsfindung.

Reizvoll: Sex, Drugs and Rock’n Roll

Spätestens seit die Mächte des neuen Europa verstanden haben, dass statt Ideologien vor allem die ausgeklügelte Stimulation des Lustzentrums eines von Natur aus eher trägen Gehirns der geschickteste Ansatzpunkt für eine Kontrolle der Massen ist, wurden zahlreiche Wege und Strukturen gefunden, auch die Geister derer zu binden, welche sich einst als intellektuelle Elite verstehen wollten: die der Studenten.
Der Begriff der Elite ist aber heute mit arroganter, unhumanistischer und verantwortungsloser Attitüde konnotiert, die Möglichkeiten zum Ablenkung bietenden Konsum von allem Möglichen sind mittlerweile schier unbegrenzt . Den in dieser Hinsicht weniger geneigten Menschen hat man Studiensysteme entwickelt, welche die Schulzeit lediglich verlängern und in denen das Lernen zwangsläufig dem Kopf weh tut.
Bei früheren Missständen im Studium, der Gesellschaft und Kultur halfen Streit- und Revolutionsschriften, Demonstrationen und Aufstände. Bei Nebenwirkungen des modernden Studentendaseins helfen immer öfter Ritalin, Gras oder Alkohol, die manchmal kaum teurer als hochwertiger Bio-Fruchtsaft sind. Alles zusammen genommen herrschen Bedingungen, in der große Frustration und Motivation oft gleichermaßen leicht untergehen können.

Was nichts kostet ist nichts wert?

Rund 161 Jahre nachdem das Original des ersten Satzes dieses Beitrages in die Welt getreten ist, könnte man es aus demokratischer Sicht bedauern, dass die Universitäten des Landes – allen vorhandenen Bestrebungen zum Trotz – noch keine börsennotierten Kapitalgesellschaften geworden sind: Wo Wissen die Dividende des Kapitals einer guten Bildungslandschaft wäre, gehörten auch die dann Studiengebühren zahlenden Studenten zu den Anteilseignern ihrer Hochschule. Und das Interesse an der die lokale Bildungslandschaft gestaltenden Hauptversammlung wäre vermutlich ungleich höher. Scheinbar sind die Probleme aber (noch) zu klein.

Deshalb ruhen sich die möglichen Eltern zukünftiger Studentengenerationen nur zu gern auf den Lorbeeren ihrer Vorgänger aus und nehmen ihr gutes Recht wahr, ihre Rechte nicht wahrnehmen zu müssen. Entpolitisierung ist längst ein Teil unserer Kultur und für viele gibt es angenehmere Kost als die Debatten einer studentischen Vollversammlung. Deren zahlenmäßig schwindenden Teilnehmer zuletzt noch vermeintlich schlüssig argumentieren wollen, dass die Beteiligung an allen Hochschulen der Republik schwach sei. Als ob diese beklagenswerten Zustände eine Rechtfertigung bilden könnten, obwohl sie doch eher zu größtem Entsetzen gegenüber dem Zeitgeist führen müssten.
Und auch, weil Mitglieder des Studierendenparlaments in ihrer Hilflosigkeit Anträge formulieren, mit denen sie ihre eigene Entscheidungsgewalt und Fachverantwortung in die Hände dieses kleinen Haufens anwesender Studenten legen wollen, um wenigstens noch ein paar Interessierte zu diesem im Semester einmaligen Ereignis anzulocken. Die Verwirrung scheint sehr groß zu sein, sogar in den Spitzengremien der studentischen Selbstverwaltung. Nun, jeder bekommt, was er verdient.
Dass dann dieses von immerhin noch weit über 1000 Studenten gewählte Studierendenparlament ziemlich unbeeindruckt mit den teils konfus ausformulierten oder thematisch trivialen Schnellschüssen hochschulpolitischer Entscheidungsfindung umgeht, verwundert wenig. War man doch vom satzungsgemäß vorgeschriebenen Quorum von geringen fünf Prozent stets weit entfernt. Die guten Cocktailbars und Kneipen der Stadt werden von den meisten Studenten häufiger frequentiert als diese Institution einer mittlerweile nur noch scheinbar demokratisch engagierten Studierendenschaft. Aber das ist ja überall genauso, also bitte.

Man kann dort nichts holen, wo nichts zu holen ist

Getrost als Binsenweisheit abtun darf man dann noch die Feststellung, dass die Themen und Verfahren einer Vollversammlung nicht immer einfach zu verstehen sind. Auf Nachfrage erklären Studenten, dass Hochschulpolitik zu abstrakt und unverständlich sei. Und sie erinnern dann aber mit ihrer Forderung nach vereinfachter Vermittlung der Gremienstrukturen, Themen und Verfahren vor allem an Schnäbel aufsperrende Küken als an selbstbewusste und emanzipierte Mitglieder einer aufgeklärten Gesellschaft. Deren eigentlich akademischer Anspruch durchaus erwähnt, wenn nicht sogar betont werden muss.

Ist es also ein legitimes Ziel, die teils komplexen aber immer bedeutenden politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Fragen der Hochschule und studentischen Selbstverwaltung dem immer häufiger unmündigen Erstsemester zu Babybrei zerkleinert vorzusetzen?

Nein, denn fördern und fordern ist in dieser Hinsicht ein notwendiger Grundsatz. Aber bisher erschien vielen die zweite Forderung allzu oft als eine Art unvertretbarer Erhebung quasi intellektueller Steuern. Also der von oben herab rufenden Forderung nach eigenen Ideen, Gedanken, Plänen und Taten. Weniger als Binsenweisheit, sondern eher als logischer Schluss gelten darf deshalb durchaus die Feststellung, dass man da nichts holen kann, wo nichts zu holen ist.

Das Feigenblatt ist welk

Eingedenk der Ahnungslosigkeit des Durchschnittsstudenten überrascht es so kaum, wenn auf der Greifswalder Vollversammlung nicht die hundert- oder tausendfache Forderung nach einer Reform des halbwegs schlechten Bolognastudiensystems laut wird. Und dass nicht mit dem Ruf nach einem vierjährigen Bachelorstudium eine Entspannung der Zeitnot ihren dringend erforderlichen Ursprung im politischen Verfahren findet. Wozu kann ein konzertierter, eindeutig formulierter und tausendfach-vielstimmig legitimierter Ruf nach hochschulpolitischen Forderungen denn noch zunütze sein? Im Mindesten bewahrt er vor der einen oder anderen Fahrt nach Schwerin, im besten Fall vor einer vollständigen Entmündigung. Die Perspektive der Greifswalder Studenten wäre ohne wohlgeneigte Entscheidungsträger in der Hochschul-, Bundes- oder Landespolitik gewiss bedeutend grauer.

Wie sollen die Referenten des AStA noch Motivation entwickeln, eine Vollversammlung zu gestalten, wenn schon jetzt klar ist: Die Teilnehmerzahl wird so unbedeutend wie die Beschlüsse sein und die ganze Mühe ist letztlich vergebens. Die Vollversammlung ist nicht mehr als das Feigenblatt einer entpolitisierten, desinteressierten  und immer häufiger auch dekadenten Studierendenschaft. Die ihren verbliebenden elitären Anspruch vorrangig in hohen Erwartungen gegenüber zukünftigen Jahresgehältern und dem individualisierten, momentanen Wohlbefinden auslebt. Entpolitisierung, Desinteresse und Dekadenz sind Bestandteile des denkbar schlechtesten Bodens, auf dem engagierte, emanzipierte, demokratische und zukunftsweisende Geisteshaltungen aufblühen.

Und sogar dieses Feigenblatt strotzt nicht vor Grün. Von den verantwortlichen Akteuren in der Hochschulpolitik wird es nicht selten als unbequeme, weil mangels Themen und Teilnehmern unbedeutende, Belastung und weniger als beliebtes Forum hochschulöffentlicher Meinungsbildung behandelt. Die Festsetzung der Termine erfolgt  kurzfristig, auch Ausfälle wurden schon akzeptiert und Themen werden eher spontan gewählt.
Die Vollversammlung ist ein Stiefkind, das die Legitimitätsmängel des StuPa nicht zu kompensieren vermag und das Demokratiedefizit in der studentischen Selbstverwaltung nicht auffüllen kann. In solch einem Zustand wird auch dieser Spross demokratischer Selbstbestimmung nicht gut gedeihen. Die Vollversammlung soll die Blüten von politischer Inkompetenz und Ignoranz aller dazu Berufenen verdecken. Aber das gelingt ihr nicht. Dieses Feigenblatt ist welk und es ist nur eine Frage der Zeit, bis es zertreten wird.

Autor: Arik Platzek
Bild: Henning Hraban Ramm  (pixelio.de)