„Hätte es nicht jene mütterliche Liebe der Kirche gegeben, […] auch wenn sie am Ende den mündig gewordenen Bürger allzu sehr bedrängte […], wären die europäischen Völkerscharen in arabische Räuberhaufen ausgeartet.“ Georg Friedrich Sartorius, Geschichte des Hanseatischen Bundes, Bd. 1, Göttingen 1802, S. iV.

Die Scharia ist, „egal wie abgemildert, auf radikalste Weise […] anti-menschenrechtlich”, befindet der Greifswalder Althistoriker Egon Flaig in der Dezember-Ausgabe des moritz in seinem (äußerst scharfsinnigen und in vielen Punkten zutreffenden) Essay „Djihad und Dhimmitude – Warum der Scharia-Islam gegen die Menschenrechte steht”. Der Aufsatz ist eine überarbeitete Version eines Flaig-Artikels aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16. September 2006. Wegen des Vorwurfs der Beleidigung des Islams hat Ägypten die Ausgaben der FAZ verboten. Die Regierung betonte, sie werde keine Veröffentlichungen dulden, die den Islam beleidige oder zu Hass oder Geringschätzung irgendeiner Religion aufriefe. Das ist natürlich kein demokratischer Schritt. Und vordergründig mag es Flaigs These von der nicht existenten „Toleranz des Islam“ bestätigen. Doch es zeigt auch, welche Büchse der Pandora Flaig quasi im Windschatten der Regensburger Papst-Rede geöffnet hat.

Welches wissenschaftliche Anliegen liegt seiner Auseinandersetzung mit dem Islam zu Grunde? Flaig strebt immer wieder den Vergleich von Djihad und Kreuzzügen an. Er legt Wert auf jenes von ihm skizzierte neue Paradigma, wonach „die rechtlich fixierte Unterdrückung Andersgläubiger […] unter dem Halbmond deutlich schwerer als unter dem Kreuz” gewesen sei.

Mit akribischer Sorgfalt will er dies belegen: „Was die Kreuzfahrer 1099 in Jerusalem anrichteten, das hatten die moslemischen Heerführer schon längst unentwegt praktiziert: 698 traf es Karthagos, 838 Syrakus; […] es traf Zamora (981), Coimbra (987)”, usw.

Historisch liegt Flaig richtig. Dennoch ist seine Auflistung an Perversionen kaum zu überbieten. Christliche und muslimische Massaker gegeneinander aufzurechnen, halte ich für historisch wie politisch illegitim, wenngleich eine Dämonisierung der Kreuzzüge sicher auch ahistorisch wäre. „Was haben wir nun wissenschaftlich gewonnen?”, fragt Flaig selber in anderem Zusammenhang. Diese Frage möchte ich hier in den Raum stellen.

Flaigs Argumentation ist in ihrer Essenz chauvinistisch: Er versucht eine kulturelle Überlegenheit des Christentums gegenüber dem Islam zu konstruieren und historisch zu legitimieren. Ein Beitrag zur Verständigung der Weltreligionen ist das sicher nicht. Gut: provozieren, polemisieren will er. Das ist auch nötig, um die Wissenschaft weiter zu entwickeln. Revisionismus ist unabdingbar. Es stellt sich jedoch bei Flaig die Frage nach der Aufgabe der Geschichte: Was soll, was kann, was darf sie leisten – und was nicht?

„Seine Vergangenheit nicht zu kennen, heißt, sie wiederholen zu müssen. Wer weiterhin das Märchen von der islamischen Toleranz verbreitet, behindert jene muslimischen Intellektuellen, die ernsthaft an jener Reform des Islam arbeiten […]“, schrieb Flaig in seinem Essay für die FAZ. Dem möchte ich widersprechen. Wenn uns die Geschichte eines gezeigt hat, dann, dass wir nicht aus ihr lernen können. Wir sollten sie also nicht selber schon instrumentalisieren.

Überdies benutzt er „Scharia-Islam“ als wenig differenzierten Kampfbegriff. Er sei „das radikalste Gegenteil der europäischen Bürgergesellschaften“, welche „am perfektesten realisiert in antiken Stadtstaaten“ gewesen sei, wo „freie Rede [und] mehrheitliche Abstimmung den Willen der Gemeinschaft herstellten. Nichts davon im Scharia-Islam“, so Flaig. Mit welchem Recht will Flaig die europäische Bürgeridee dem Islam aufdrängen? Genau diese imperiale Geiteshaltung wirft er dem „Scharia-Islam“ doch vor, wenn er sagt, der Djihad sei „naturgemäß ein Angriffskrieg und als solcher theologisch gerechtfertigt”,  da, „wer Muslime zu bekehren sucht, […] überall wo die Scharia herrscht, getötet” werde. Nur weil die islamische Gesellschaftsidee anders (kollektiver) ist, muss sie nicht minderwertig sein. So sehr wir auch die unsere schätzen. Es wurden auch in islamischen Ländern Rechte auf  Rede- und Meinungsfreiheit auf Grundlage der Scharia gewährt (vgl. Biel, S. 214).  
„Viele Muslime leugnen die Dhimmitude”, die Ungleichbehandlung von Nicht-Muslimen im Islam, so Flaig. „Wenn das Leugnen weitergeht und wenn die Wissenschaft selber zum Terrain wird auf dem die Leugner nach Belieben […] diffamieren dürfen, dann können nur noch Anti-Leugnungsgesetze helfen […]. [Diese] greifen leider tief ein in den freien Austausch der Gedanken. Aber sie sind die logische Folge einer Wandlung des intellektuellen Feldes: Nämlich wenn die wissenschaftliche Praxis nicht mehr nach [sic!] universalen Regeln auf Wahrheit verpflichtet ist, sondern wenn ein multikulturelles Eigenrecht die Intellektuellen jeglicher Kultur auf „ihre eigene“ Wahrheit einschwört.“ Hier zeigt sich die Angst Flaigs vor einer „Hinrichtung der Geschichte“, die er 2006 bei der Tagung „Wahre Geschichte – Geschichte als Ware“ vortrug: Auch dabei dreht es sich um die Frage nach dem „Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ (Nietzsche).  Geschichte, fürchtet Flaig, könne vollständig für das kulturelle Gedächtnis instrumentalisiert werden. Sein Plädoyer ist daher eines dafür, dass die Geschichtswissenschaft eine Wahrheit annehmen müsse, die sich auf eine „äußere, objektive Realität” bezieht. Hier stimme ich ihm zu.
Doch Flaig lässt sich mit seinem Essay genau vor diesen Wagen spannen. Durch seinen Ansatz versucht er das kulturelle Gedächtnis des Christentums rein zu waschen, statt nach den tief liegenden Ursachen des aufkeimenden Islamismus zu fragen. Zeigt nicht die extreme Reaktion der (islamischen) ägyptischen Regierung, dass sie bemüht ist, der Radikalen im Lande Herr zu werden? Beschreibt Flaig nicht gerade die politische Instrumentalisierung des Islams und Djihads –  denn der ist bekanntlich Interpretationssache? Die Hintergründe aber spart Flaig aus; nämlich, dass es weltweit einen wachsenden religiösen Fanatismus gibt und dass die Perspektivlosigkeit in der „arabischen Welt” ihr Übriges dazu beiträgt. „Viele Rechtsgelehrte definieren den Djihad als individuelle Pflicht”, so Flaig. Die Konsequenz: „Al Qaida ist keine Verirrung, sondern entspricht dieser Traditionslinie.” Aber es ist eben nur eine Traditionslinie. Flaig selber gesteht ein, dass über diese Linie „fatalerweise […] innerhalb der orthodoxen Tradition seit dem 9. Jh. keine Einigkeit” herrsche. Ist das nicht ein positives Zeichen?

Vielleicht ist das Paradigma Flaigs ja gar nicht so neu, sondern ist in einer Kontinuität zu sehen, die sich schon vor 200 Jahren bei Satorius offenbarte.

Der Autor studiert Geschichte und Anglistik an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald und arbeitet seit sechs Jahren als freier Journalist.

Geschrieben von Martin Behrens